5/18/2013

Kapitel 1: "Überraschungseier"

Es war Sonntag. Sonntage sind wie Überraschungen. Es gibt sie nur in jedem siebten Ei. Doch sie schmecken am Ende doch alle gleich.
Ich öffnete mein Dachfenster und atmete den Duft von Orangen. Ich rieb die Müdigkeit aus meinen Augen und öffnete meine Zöpfe. Ich schloss mein Fenster und torkelte ins Bad, sah mich im Spiegel an. Drachenblaue Augen, zerzauste blonde Haare, rosa Lippen und Wangen. Meine Wimpern waren kurz und meine Lippen schmal. Ich fühlte mich wie ein Mädchen. Schnell kämmte ich mich und schminkte mich dezent. Ich fühlte mich immer noch wie ein Mädchen.
Ich lief nach unten, ich war alleine zu Hause. Ich hatte schon Sommerferien, während meine Geschwister noch Schule hatten und meine Eltern arbeiteten. Der Briefträger war schon da gewesen und ich riss die Umschläge auf. Nichts interessantes. Ich schaute Fernsehen und mampfte Maiswaffeln. Da fiel mir etwas ein. Ich holte das Heft aus meinem Zimmer und nahm einen Umschlag aus einer der Schubladen. Ich öffnete eines meiner drei Glücksarmbänder. Das mit dem Feder-Anhänger. Ich schrieb die Adresse aus dem Heft ab, steckte es mit meinem Armband in den Umschlag und leckte die Ränder ab. Sie schmeckten nach Honig. ich klebte eine Briefmarke drauf. Sie schmeckte nach Fanta. Dann zog ich mir was über und lief zum Postkasten, um den Brief einzuwerfen. Auf dem Weg dorthin traf ich Dommi, doch er wagte nicht, mir in die Augen zu sehen. Wir hatten uns letzte Woche getrennt. Ich traf den kleinen indischen Jungen, der mir hinterherpfiff, doch ich zeigte ihm den Finger. Man traf viele Leute in einem 500-Leute-Dorf. Jeder kannte jeden. Außer mir. Ich kannte 499. Denn manchmal erkannte ich mich selber nicht. Wieso tat ich das ? Einen Brief an einen Fremden schicken. An einen Maskierten.
Ich hatte eine Allee. Niemand wusste, dass ich dort hinging. Manchmal joggen, manchmal sitzen. Gestern Abend saß ich. Ich dachte grade über Schicksal und so einen Schwachsinn nach, als wie aus dem Nichts vor mir ein Typ auf den Boden plumpste. Nein, flog ! Er richtete sich langsam auf und ich konnte seinen Schatten im Gegenlicht sehen. Er war irre dünn und wo seine Haare nicht zu kurz rasiert waren, hatte er süße Locken. Ich starrte ihn wie gebannt an und er sah mich glaube ich auch an. Trug er eine Maske ? Er schaute schnell weg und lief davon. Normalerweise kenne ich doch alle im Dorf, aber das, was ich von ihm sah, kam mir nicht bekannt vor. Ich überlegte kurz, ob ich ihm nachlaufen sollte, aber ich konnte ihn nicht mehr sehen. Ich war aufgestanden und bemerkte, dass er ein Heft verloren hatte. Darin standen jede Menge Texte und auch ein paar Zeichnungen. Der Kerl war ein Künstler. Mal brachte er mich zum Lachen, mal zum Weinen. Ich liebte ihn. Ganz hinten im Heft steht das Postfach, an das jetzt auch dieser Brief adressiert war. Ich warf ihn ein und hörte ihn zu den anderen Briefen im Kasten plumpsen. Nein, er flog.

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