Zeugnisse sind wie Filmproduktionen. Egal, was man macht, irgendwas ist falsch. Mal ist es der Regisseur, die Hauptdarstellerin oder das Drehbuch hat Macken. Mal ist es Mathe, Chemie oder man hat ganz vergessen, für Deutsch zu lernen. Mal kriegt man einen Oscar, mal die goldenen Himbeere. Man eine 10, mal eine 0. Obwohl man sich immer Mühe gibt.
Wenn der Typ mit der Maske meinen Brief bekommt, wird er sicher überrascht sein. Er wird sich freuen, dass er sein Heft wieder hat und vielleicht freut er sich auch über das Armband. Vielleicht trägt er es sogar, dann könnte ich ihn wiedererkennen, wenn ich ihn eines Tages sehe. Der Typ mit der Maske mit dem Feder-Armband: Lächerlich. Ich kenne seinen Namen. Er stand in dem Heft: Carlo.
Als ich im Schulbus auf dem Weg nach Hause saß, denn ich musste an diesem Tag noch ein letztes Mal in die Schule, um mein Zeugnis abzuholen, lehnte ich meinen Kopf verträumt ans Fenster. Ich achtete nicht wirklich darauf, was ich sah. Es zog alles einfach so an mir vorbei. Ich starrte nicht durch die Glasscheibe, sondern auf die Glasscheibe. Und plötzlich. Plötzlich sah ich ihn auf der Glasscheibe. Ich meine, durch die Glasscheibe. Dinge, die man nicht sehen muss, sieht man nicht, obwohl man darauf achtet. Aber Dinge, die man sehen muss, sieht man sogar, wenn man nicht aufpasst. Ich sah ihn. Er hatte süße Locken an den Stellen, an denen seine Haare nicht zu kurz rasiert waren. Er hatte wunderschöne nussbraune Augen und trug lässige Jeans und Nikes. Er war ein bisschen unrasiert und hatte ausgeprägte Kieferknochen. Schmale Lippen, durchschnittliche Nase. Sehr dünn. Wieso beschreibe ich ihn so genau ? Er hatte mir einfach die Sprache verschlagen...so wie...so wie der Typ mit der Maske. Ich starrte ihn mit offenem Mund an und plötzlich starrte er zurück. Er lächelte mich an ! Ich musste auch lachen. Ich schnappte meinen Beutel, stürmte aus dem Bus, sobald ich konnte. Plötzlich stand ich vor ihm. Ich grinste und musste ihn wohl sehr verstört angestarrt haben. Doch er lachte nett. Wir lachten. Es war so verdammt komisch. Komisch lustig und komisch peinlich. Ich fragte: "Carlo ?" Mehr verpeinlichen konnte ich mich nicht mehr. Er fragte: "Woher kennst du meinen Namen ?" Ich traute meinen Augen nicht. Sollte ich den Typen mit der Maske, den Mann, den ich liebte so schnell gefunden haben ? Ich starrte auf seine Handgelenke, aber da war kein Armband. Klar, ich hatte den Brief erst gestern abgeschickt. "Ich hab dein Heft nicht. Der Briefträger hat es", meinte ich atemlos. Er sagte: "Oh ja, mein Heft. Ist okay. Du hättest es auch behalten können." Er bliebt so erstaunlich cool... Er fragte nach meinem Namen und ich antwortete: "Annie. Nein ich meine, Anne-Mary. Nein, Annie !" Carlo und ich redeten lange. Es war, als würden wir uns ewig kennen und hätten uns Jahre nicht gesehen. Wir waren so vertraut miteinander, aber hatten viel nach zu holen.
Der Typ mit der Maske ist 20 (sagt er zumindest), wohnt in der Stadt und besucht hier öfter einen Freund aus Schulzeiten, der Johannes heißt und eine Million geerbt hat, hat selber nicht viel Geld, ist Single, trifft aber viele Frauen, nichts ernstes, wohnt in einer WG, er hat einen Bruder und eine Schwester und einen Hund, er malt und schreibt gerne, ist Künstler, Designer, hat ein Tattoo.
Das Mädchen, das ihn liebt ist 16, wohnt am Land, hat wenig Freunde, alle in der Nähe, hat einen Bruder und eine Schwester und eine Katze, geht zur Schule und will später für eine Zeitung arbeiten, hat noch zwei Glücksarmbänder übrig.
Als wir bei meinem Haus ankamen, sagte er: "Euer Haus gefällt mir. Ihr wohnt hier sehr schön am Land." Ich: "Ja, es gefällt mir sehr gut hier. In der Nacht kann ich die Sterne durch mein Fenster sehen." Ich war immer noch nervös. Zum Abschied gab er mir scheu die Hand.
Er stand vor mir: Carlo.
5/19/2013
5/18/2013
Kapitel 1: "Überraschungseier"
Es war Sonntag. Sonntage sind wie Überraschungen. Es gibt sie nur in
jedem siebten Ei. Doch sie schmecken am Ende doch alle gleich.
Ich öffnete mein Dachfenster und atmete den Duft von Orangen. Ich rieb die Müdigkeit aus meinen Augen und öffnete meine Zöpfe. Ich schloss mein Fenster und torkelte ins Bad, sah mich im Spiegel an. Drachenblaue Augen, zerzauste blonde Haare, rosa Lippen und Wangen. Meine Wimpern waren kurz und meine Lippen schmal. Ich fühlte mich wie ein Mädchen. Schnell kämmte ich mich und schminkte mich dezent. Ich fühlte mich immer noch wie ein Mädchen.
Ich lief nach unten, ich war alleine zu Hause. Ich hatte schon Sommerferien, während meine Geschwister noch Schule hatten und meine Eltern arbeiteten. Der Briefträger war schon da gewesen und ich riss die Umschläge auf. Nichts interessantes. Ich schaute Fernsehen und mampfte Maiswaffeln. Da fiel mir etwas ein. Ich holte das Heft aus meinem Zimmer und nahm einen Umschlag aus einer der Schubladen. Ich öffnete eines meiner drei Glücksarmbänder. Das mit dem Feder-Anhänger. Ich schrieb die Adresse aus dem Heft ab, steckte es mit meinem Armband in den Umschlag und leckte die Ränder ab. Sie schmeckten nach Honig. ich klebte eine Briefmarke drauf. Sie schmeckte nach Fanta. Dann zog ich mir was über und lief zum Postkasten, um den Brief einzuwerfen. Auf dem Weg dorthin traf ich Dommi, doch er wagte nicht, mir in die Augen zu sehen. Wir hatten uns letzte Woche getrennt. Ich traf den kleinen indischen Jungen, der mir hinterherpfiff, doch ich zeigte ihm den Finger. Man traf viele Leute in einem 500-Leute-Dorf. Jeder kannte jeden. Außer mir. Ich kannte 499. Denn manchmal erkannte ich mich selber nicht. Wieso tat ich das ? Einen Brief an einen Fremden schicken. An einen Maskierten.
Ich hatte eine Allee. Niemand wusste, dass ich dort hinging. Manchmal joggen, manchmal sitzen. Gestern Abend saß ich. Ich dachte grade über Schicksal und so einen Schwachsinn nach, als wie aus dem Nichts vor mir ein Typ auf den Boden plumpste. Nein, flog ! Er richtete sich langsam auf und ich konnte seinen Schatten im Gegenlicht sehen. Er war irre dünn und wo seine Haare nicht zu kurz rasiert waren, hatte er süße Locken. Ich starrte ihn wie gebannt an und er sah mich glaube ich auch an. Trug er eine Maske ? Er schaute schnell weg und lief davon. Normalerweise kenne ich doch alle im Dorf, aber das, was ich von ihm sah, kam mir nicht bekannt vor. Ich überlegte kurz, ob ich ihm nachlaufen sollte, aber ich konnte ihn nicht mehr sehen. Ich war aufgestanden und bemerkte, dass er ein Heft verloren hatte. Darin standen jede Menge Texte und auch ein paar Zeichnungen. Der Kerl war ein Künstler. Mal brachte er mich zum Lachen, mal zum Weinen. Ich liebte ihn. Ganz hinten im Heft steht das Postfach, an das jetzt auch dieser Brief adressiert war. Ich warf ihn ein und hörte ihn zu den anderen Briefen im Kasten plumpsen. Nein, er flog.
Ich öffnete mein Dachfenster und atmete den Duft von Orangen. Ich rieb die Müdigkeit aus meinen Augen und öffnete meine Zöpfe. Ich schloss mein Fenster und torkelte ins Bad, sah mich im Spiegel an. Drachenblaue Augen, zerzauste blonde Haare, rosa Lippen und Wangen. Meine Wimpern waren kurz und meine Lippen schmal. Ich fühlte mich wie ein Mädchen. Schnell kämmte ich mich und schminkte mich dezent. Ich fühlte mich immer noch wie ein Mädchen.
Ich lief nach unten, ich war alleine zu Hause. Ich hatte schon Sommerferien, während meine Geschwister noch Schule hatten und meine Eltern arbeiteten. Der Briefträger war schon da gewesen und ich riss die Umschläge auf. Nichts interessantes. Ich schaute Fernsehen und mampfte Maiswaffeln. Da fiel mir etwas ein. Ich holte das Heft aus meinem Zimmer und nahm einen Umschlag aus einer der Schubladen. Ich öffnete eines meiner drei Glücksarmbänder. Das mit dem Feder-Anhänger. Ich schrieb die Adresse aus dem Heft ab, steckte es mit meinem Armband in den Umschlag und leckte die Ränder ab. Sie schmeckten nach Honig. ich klebte eine Briefmarke drauf. Sie schmeckte nach Fanta. Dann zog ich mir was über und lief zum Postkasten, um den Brief einzuwerfen. Auf dem Weg dorthin traf ich Dommi, doch er wagte nicht, mir in die Augen zu sehen. Wir hatten uns letzte Woche getrennt. Ich traf den kleinen indischen Jungen, der mir hinterherpfiff, doch ich zeigte ihm den Finger. Man traf viele Leute in einem 500-Leute-Dorf. Jeder kannte jeden. Außer mir. Ich kannte 499. Denn manchmal erkannte ich mich selber nicht. Wieso tat ich das ? Einen Brief an einen Fremden schicken. An einen Maskierten.
Ich hatte eine Allee. Niemand wusste, dass ich dort hinging. Manchmal joggen, manchmal sitzen. Gestern Abend saß ich. Ich dachte grade über Schicksal und so einen Schwachsinn nach, als wie aus dem Nichts vor mir ein Typ auf den Boden plumpste. Nein, flog ! Er richtete sich langsam auf und ich konnte seinen Schatten im Gegenlicht sehen. Er war irre dünn und wo seine Haare nicht zu kurz rasiert waren, hatte er süße Locken. Ich starrte ihn wie gebannt an und er sah mich glaube ich auch an. Trug er eine Maske ? Er schaute schnell weg und lief davon. Normalerweise kenne ich doch alle im Dorf, aber das, was ich von ihm sah, kam mir nicht bekannt vor. Ich überlegte kurz, ob ich ihm nachlaufen sollte, aber ich konnte ihn nicht mehr sehen. Ich war aufgestanden und bemerkte, dass er ein Heft verloren hatte. Darin standen jede Menge Texte und auch ein paar Zeichnungen. Der Kerl war ein Künstler. Mal brachte er mich zum Lachen, mal zum Weinen. Ich liebte ihn. Ganz hinten im Heft steht das Postfach, an das jetzt auch dieser Brief adressiert war. Ich warf ihn ein und hörte ihn zu den anderen Briefen im Kasten plumpsen. Nein, er flog.
Abonnieren
Posts (Atom)